„Sorry, ich muss noch lernen“

[Von: Harry Aldous Rain]

I

Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates.1

Die Schulpflicht. Der deutsche Staat setzt durch sein Gesetz und über die einzelnen Bundesländer die Schulpflicht in Kraft – schafft sich somit sein eigenes Schulwesen. So müssen alle Kinder ab sechs Jahren mindestens zehn Jahre verschiedenste Bildungsinstitutionen durchlaufen. Dabei ist in Deutschlad alles, was als Schule gilt, staatlich geregelt (Grundschulen, Realschulen, Universitäten, Berufsschulen, Privatschulen …). Weshalb der Staat eine Schulpflicht in die Welt setzt, wie es in den hiesigen Bildungsbetrieben zugeht, was alles rechtlich festgeschrieben ist – kurz: warum dem Staat die (Aus-)Bildung seines Volkes so wichtig ist? – auf all diese Fragen soll in diesem Artikel eine Antwort gefunden werden.

II

Der schulische Alltag

Das Konkurrenzsubjekt der Selektion. Wie geht es nun in der schulischen Lehre vor sich? So ziemlich jede_r2 weiß, dass in der Schule vorgegebene Inhalte in einer ebenso vorgegebenen Zeit aufgenommen werden müssen, gleichgültig, ob die Schüler_innen dem Zeitdruck überhaupt standhalten, ob sie am Stoff interessiert sind und wie ihre individuellen Kenntnisstände aussehen. Für jede Leistung bekommen die einzelnen Schüler_innen eine Note, die den Schlüssel zum Weiterkommen in der Schulhierarchie, später Berufshierarchie (Reicht die Note für das Gymnasium, oder muss ich doch auf die Realschule?) darstellt.3 Sind die Noten vergeben, wird einfach fortgefahren, auch wenn noch nicht alle den Lernstoff verstanden haben. Die Noten sind Verhältniszahlen, d.h. sie stellen sich aus dem Vergleich verschiedener Leistungen unterschiedlicher Schüler_innen zusammen, so dass sich zuallererst stets gefragt werden muss: „Was und Wie muss ich lernen, um besser zu sein als andere?4 Die Verteilung der Leistungen der Schüler_innen auf einer Notenskala bildet den unvernünftigen, aber den Zwecken der Schule funktionalen Maßstab, an dem sich alle Schüler_innen bewähren müssen. Unvernünftig deshalb, da es keinen allgemeinen und notwendigen, d.h. objektiven Maßstab beim Lernen außer die zu lernende Sache selbst gibt. Die Note gibt keinerlei Aussage über die inhaltliche Durchdringung einer Sache. Die Note ist im Grunde eine von außen herangetragene Ranking-Zahl, die an eine Qualität, die des Verstehens einer Sache, gebunden wird. Die Note ist der Sache äußerlich, wird hinzugefügt und hat nichts mit inhaltlicher Erkenntnis für sich genommen am Hut. Wie sehr es auf dieses Ranking, also die Sotierung der Klasse nach Noten ankommt, merkt man in den Fällen, bei denen eine Klassenarbeit wiederholt werden muss: sowohl wenn alle Schüler_innen eine sehr gute Note bekommen als auch in dem völlig entgegengesetzten Fall, bei dem alle ein „ungenügend“ erhalten, müssen Prüfungen erneut abgelegt werden.

Worauf es ankommt…

Das alles wirft eine erste Frage auf: Wenn es wirklich auf das Verstehen, auf die Erkenntnis schlechthin ankommen würde, warum setzt man dann unterschiedliche Verständnisse ins Verhältnis? Um dann ein Schüler_innen-Ranking (von sehr gut bis sehr schlecht) zu erstellen. Dass dieses in den hiesigen Bildungsinstitutionen tagtäglich durchgeführt und in den Mittelpunkt der schulischen Laufbahn geschoben wird, sagt also schon einiges über den Zweck der Schule aus: Selektion durch Lernkonkurrenz. Dies bedeutet, dass die Schüler_innen auf eine Leistungs- bzw. später auf eine Berufshierarchie verteilt werden (bspw. Kopf- und Handarbeit5). Dazu ein Ausschnitt eines anderen Textes6:

Der Staat möchte, dass sich die BürgerInnen für die Unternehmen nützlich machen – denn dass die Unternehmen Profite machen, ist die Grundlage dafür, dass der Staat Steuern kassieren und in der internationalen Staatenkonkurrenz mithalten kann. In entwickelten kapitalistischen Staaten gibt es kaum mehr Jobs, für die die LohnarbeiterInnen nicht zumindest ein bisschen Lesen, Schreiben und Rechnen können sollten, dem Chef gehorchen können muss man in jedem Job. Doch die Unternehmen brauchen nicht nur FließbandarbeiterInnen mit Hauptschulabschluss, sondern auch welche mit Matura und welche mit Uni-Abschluss. Deshalb ist Bildung ein entscheidender Faktor im globalen Konkurrenzkampf der Nationen geworden, die EU möchte gar zum “wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt”7 werden.8

Die Rolle des Wissens

Das selektive Verfahren hat ebenfalls Auswirkungen auf die Rolle des Wissens. Dieses Wissen dient in der bürgerlichen Schule zur Grundlage der Selektion, wirkliches Verständnis und Begeisterung für Gegenstände schulischer Behandlung stellen höchstens Nebenprodukte dieser dar. Damit soll nicht gesagt sein, dass in der Schule der Inhalt des Lernstoffes egal ist – es werden sehr wohl ganz bestimmte Inhalte vermittelt9 – dennoch ist der Inhalt des Wissens für die Selektion erst einmal egal, hier dient er primär als Mittel zum Zweck. Verschiedene Verständnisse, werden durch die Noten miteinander ins Verhältnis gesetzt, so dass der Inhalt des Wissens zum Zwecke der Selektion in den Hintergrund gerückt wird. Es kommt hiernach einzig und allein darauf an, in der Lernkonkurrenz unter der Schüler_innenschaft zu bestehen; der Primat liegt also auf der Selektion.10

Für die Schüler_innen besteht an sich kein notwendiges Interesse daran, sich gegenseitig ins Verhältnis zu setzen, um ein Ranking untereinander aufzustellen. Dieses Interesse wird vielmehr staatlich gesetzt, da der Zweck der Schule, wie oben gezeigt, außerhalb derselben – im Wirtschaftswachstum und in der Wettbewerbsfähigkeit der Nation – liegt. Die ständige Beschwerde, meist vonseiten der Lehrer_innen, dass es den Schüler_innen nicht auf den Inhalt des Lernens (ausgedrückt in der Aussage: „Ich muss noch lernen, damit ich die morgige Klassenarbeit bestehe.“) ankommt, bleibt innerhalb des bürgerlichen Bildungssystems eine Notwendigkeit, da die hiesige Lernform immer wieder das Bedürfnis nach Erkenntnis bekämpft (Zeitdruck, Sanktionen etc.).

Hier liegt also ein Widerspruch vor: Da die Schüler_innen sich Wissen aneignen müssen, d.h. aus Zwang lernen müssen, besteht die Tendenz, dass Inhalte verloren gehen, da die Schüler_innen die eigene Lernmotivation verlieren.

Kompensation statt Reflektion

Der allbekannte Tipp auf ungenügende Noten seitens Lehrer_innen und Eltern: „Wenn Lernen nichts für dich ist, dann versuche es doch mal mit einer Ausbildung“ – bleibt daher notwendig falsche Konsequenz. Notwendig daher, weil es in einer Lernkonkurrenz bzw. Selektion auch immer Verlierer_innen geben muss. Falsch, weil in dieser Aussage vermittelt wird, dass es die Schüler_innen sind, die für die persönliche Misere in der Schule verantwortlich sind: Kompensation statt Reflektion. Kompensation, da es hier so erscheint, als sei die Schuleignung bzw. -uneignung eine persönliche Eigenschaft des Kindes. Dabei ist es die Lernkonkurrenz, die ständig durch die Selektion geeignete und ungeeignete Schüler_innen herstellt; die Eignung ist ein Produkt der Lernkonkurrenz. Die herrschenden Zwecke der Schule werden also nicht hinterfragt, bzw. reflektiert, ihre Konsequenzen werden auf das Individuum abgewälzt. Dass man sich die Alternativen ‚freiwillig‚ ausgesucht hat und ihnen nachgegangen ist, reicht zur Begründung eines Besseren.

Dass sich bei dieser jahrelangen Veranstaltung ein bestimmtes Subjekt der Konkurrenz herausstellt, ist kein Wunder; die Identifikation mit der ‚eigenen Anstrengung‚ zur Erreichung eines vorgegebenen Ziels liegt nahe – wer sich nicht bewährt, wird sanktioniert. Die Schule erscheint dem_der Schüler_in als ein Mittel zum individuellen Vorankommen im gesellschaftlichen Verkehr. Doch die Schule erscheint nicht nur als Mittel, sie ist es in gewisser Weise auch. Damit ist sie eine widersprüchliche Realität, da sie einerseits einziges Mittel und andererseits kein wirkliches Mittel für das eigene Vorankommen ist (siehe auch Fazit). In ihr kann es nur Gewinner_innen unter Hinnahme von Verlierer_innen geben. Doch ob die schulische Bildung zum individuellen ‚Erfolg‚, d.h. hier zur (gut bezahlten) Anstellung am Arbeitsmarkt führt, erfährt man erst im Anschluss und hängt entscheidend davon ab, ob sich überhaupt ein_e Arbeitgeber_in findet, der_die die Einzelnen nach geschäftsmäßiger Berechnung anstellt oder nicht.

Gerechtigkeitssinn

Dem Konkurrenzsubjekt, wie es in der Schule geprägt wird, entspricht ein ganz bestimmtes Verständnis von Gerechtigkeit. Bei Notenverteilungen wird stets um die gerechte Note gestritten, Schüler_innen bspw. geben vor, dass ihre Note im Vergleich zu den Noten anderer Schüler_innen nicht gerecht vergeben sei. Anhand dieses Vorwurfs erkennt man die Grundlage für den Streit um die gerechte Note: Das Notensystem selbst, bzw. der eigene Vergleich mit den Leistungen anderer. Dabei aber wird verkannt, dass die Bezifferung einer qualitativen Sache so funktional wie verkehrt ist. Wie ist es möglich ein qualitatives Verständnis, oder das Verhältnis zwischen zwei konkret unterschiedlichen Verständnissen mit einer Zahl zu betiteln? Dieses kann nur willkürlich geschehen. Warum vergleicht man eigentlich zwei Leistungen von unterschiedlichen Schüler_innen? Warum setzt man sich nicht zusammen und eignet sich die Gegenstände der Welt gemeinsam an, klärt Wissenslücken und diskutiert unterschiedliche Ansichten aus? An dieser ganzen umständlichen Aktion also merkt man, dass es nicht einfach darauf ankommt, etwas zu verstehen und jemandem etwas beizubringen. Gerechtigkeit wie sie da gefordert wird, ist das Verlangen nach dem Anlegen des gleichen Maßstabs in der Leistungskonkurrenz. Sie ist also notwendigerweise die Parteinahme für das individuelle Vorankommen in und mit der Konkurrenz und Selektion.

III

Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.11

Die Trennung

Freiheit der Wissenschaft, oder: Wie ist Wissenschaft und Bildung nützlich für die kapitalistischen Verhältnisse? Dass sie es nämlich sind, wurde oben gezeigt. In der Bundesrepubl Bildung und Wissenschaft und dem Berufsleben auf der anderen Seite. Erstere werden staatlich organisiert, zweiteres liegt auf der Seite der Privateigentümer_innen, die ebenfalls staatlichen Gesetzen gehorchen müssen, um zu wirtschaften.

Fehlende Geschäftsmäßigkeit

Dass der Staat für die Bildung der späteren (zumindest potenziellen) Arbeitskräfte zuständig ist, und nicht die Einzelunternehmen, liegt an der fehlenden Geschäftsmäßigkeit der Bildung selbst. Diese ist zwar für das kapitalistische Geschäft notwendig, aber ist selbst kein Geschäft; mit der bloßen Vermittlung von Wissen lässt sich erst einmal kein Gewinn erzielen. Die schulische Bildung wäre für den_die Einzelkapitalist_in primär ein unsicherer Kostenfaktor, Arbeitskräfte mitsamt ihres Wissens könnten immer auch kündigen. Die Volkswirtschaft als solche benötigt also einerseits ausgebildete Arbeitskräfte zur Erwirtschaftung von Profit, die Ausbildung ist aber andererseits ein unrentabler Kostenfaktor für das einzelne Unternehmen, weshalb i.d.R. der Staat als „ideelle[r] Gesamtkapitalist12 die Aufgabe der allgemeinen Wissensproduktion in die Hand nimmt.13

Gewährte Freiheit

Mit dem oben genannten Gesetzestext stellt der Staat – unter Beachtung der Schranke der Verfassung14 – die Wissenschaftler_innen frei (in Forschung & Lehre), so dass sie unter keinem direkten Zwang zu einer bestimmten Lehr- und Forschungsrichtung stehen. Allein die Sache der Wissenschaft selbst soll entscheiden, in welche Richtung Forschung und Lehre ihren Weg gehen – so werden unter Auslassung bestimmter privat-kapitalistischer Interessen sichere Ergebnisse produziert; die Wissenschaftler_innen sollen sich allein dem Fortschritt der Wissenschaft widmen und werden deshalb vom Staat frei gesetzt, so dass sie ein Stück weit von den Unannehmlichkeiten der Lohnarbeit befreit sind.15 Wer, wenn nicht sie, weiß, welchen Weg die Wissenschaft gehen muss?

Wissen wird überführt

Die in der Freiheit der Forschung und Lehre produzierten Ergebnisse werden dann u.a. für neue Technologien zur Erreichung eines Produktivitätsvorsprungs in der Staaten- und Kapitalkonkurrenz angewendet.16 Ein sehr skurriles Verhältnis: Innovationen, Erfindungen usw. werden gemacht, doch sind die Resultate, da sie zur Ware werden, von den Menschen und ihren Bedürfnissen getrennt. Hier also befindet sich der Übergang der oben genannten Trennung von Bildung und Kapital: Die sicheren Ergebnisse aus der Sphäre der Forschung und Lehre stellen ein Angebot für die Sphäre der kapitalistischen Produktion dar. Die Freiheit der Wissenschaft, d.h. die von den Zwängen des Marktes befreite Wissenschaft produziert ein Sammelsurium an Wissen, welches ein Angebot für die kapitalistische Produktion darstellt (gemeint sind hier nicht Produkte wie das iPhone). Wissen, das der Produktivitätssteigerung dienlich ist, wird angewendet; wenn nicht, dann nicht. Die Auswahl an dienlichem Wissen obliegt also der Entscheidungsgewalt der jeweiligen Einzelkapitalst_innen, nicht etwa den Bedürfnissen der Menschen (siehe bspw. arbeitslose Akademiker_innen).

Trennung im Widerspruch

Hinzu kommt, dass sich die Bedingungen, d.h. die Nachfrage an spezifischem Wissen hinter dem Rücken der gesellschaftlichen Subjekte über die Zeit hinweg ändern (heute sind Informatiker_innen gesucht, morgen vielleicht nicht mehr). Somit ist die Kritik an dieser Trennung, die Bildung solle sich doch nach den Bedingungen am Arbeitsmarkt richten, notwendige Begleiterscheinung, d.h. nicht aufzulösen. Einerseits soll die Trennung eingehalten werden, damit viele Möglichkeiten für den Arbeitsmarkt produziert werden, gerade weil die Bedingungen auf dem Arbeitsmarrkt nicht vorhersehbar sind. Andererseits soll die Trennung dann doch nicht zu weit reichen, denn nur so können sich die Bildungsinstitutionen am volkswirtschaftlichen Bedarf ausrichten.17 Hier erkennt man den Maßstab der immanenten Kritik: Das Wirtschaftswachstum der Nation. Alle Bildungsreformen, bzw. Vorstellungen wie Bildung zu organisieren sei, arbeiten sich an diesem Widerspruch ab: Humboldt’sches Bildungsideal vs. Drittmittelförderung.

Diese Trennung nun macht sich für den_die angehende_n Studenten_in dadurch geltend, dass mit der Wahl eines Studiengangs nicht ein Anspruch auf einen entsprechenden Beruf erhoben werden kann. Am Ende entscheidet der Arbeitsmarkt, welcher der Ansprüche – wenn überhaupt – erfüllt wird. Die Abwehr gegen Überqualifikation deutet darauf hin, dass es hier nicht um möglichst viel Wissen über die Welt geht sondern, dass der Bedarf der kapitalistischen Ökonomie entscheidet, welches und wie viel Wissen nötig ist. Wie kann es sein, dass ein Wissen großen Ausmaßes schlecht ist? Dieses kann nur als Problem auftauchen, wenn der Maßstab die Ansprüche des Berufs sind. Andererseits: Je weniger du am staatlichen Bildungsprogramm teilgenommen hast, desto günstiger bist du als Ware Arbeitskraft. Dazu Marx:

Um die allgemein menschliche Natur so zu modifizieren, daß sie Geschick und Fertigkeit in einem bestimmten Arbeitszweig erlangt, entwickelte und spezifische Arbeitskraft wird, bedarf es einer bestimmten Bildung oder Erziehung, welche ihrerseits eine größere oder geringere Summe von Warenäquivalenten kostet. Je nach dem mehr oder minder vermittelten Charakter der Arbeitskraft sind ihre Bildungskosten verschieden. Diese Erlernungskosten, verschwindend klein für die gewöhnliche Arbeitskraft, gehen also ein in den Umkreis der zu ihrer Produktion verausgabte Ware.18

IV

Und nun von offizieller Seite. Folgender Abschnitt ist unter dem Titel „Grundlegendes Wissen von A bis Zin einem Lexikon der staatlich getragenen Bundeszentrale für politische Bildung zu finden. Wir lassen ihn für sich sprechen:

Bildungspolitik, Maßnahmen des Staates, die auf den Ausbau und die Reform des Bildungssystems ausgerichtet sind. Das Bildungssystem muss dabei einerseits das Recht des Einzelnen auf einen seinen individuelle Fähigkeiten entsprechende Bildung gewährleisten19 und andererseits der wirtschaftspolitischen Bedeutung für eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gerecht werden. Wirtschaftspolitisch spielen deshalb das allgemeine Bildungsniveau und die berufliche Bildung eine zentrale Rolle. Staatliche Bildungsausgaben sind gerade mit Blick auf die 2002 veröffentlichte PISA-Studie als Investitionen in Humankapital zu verstehen und damit vor allem für Volkswirtschaften wie Deutschland, die nicht über große Mengen natürlicher Rohstoffe verfügen, die Basis für die Wirtschaftskraft und für die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit.

Die Bildungspolitik des Staates muss deshalb auch sicherstellen, dass auf dem Arbeitsmarkt genügend ausgebildete Fachkräfte verfügbar sind, und zwar einerseits, was die Anzahl betrifft, andererseits hinsichtlich der Qualität, also bezogen auf die technischen und wirtschaftlichen Anforderungen der modernen, globalen Wirtschaftswelt. Darüber hinaus werden durch ein funktionierendes Bildungssystem die sozialen Sicherungssysteme entlastet, da eine qualifizierte, anforderungsgerechte berufliche Bildung des Einzelnen die Chancen am Arbeitsmarkt verbessert und so zu einem hohen Beschäftigungsstand beigetragen wird.20

V

Studentische Kritik. Immer wieder findet sich bei Bildungsprotesten, nicht nur bei Studierenden, die Losung der Chancengleichheit; diese würde im heutigen Bildungssystem missachtet. Vorweg: Obwohl beim Gesellschaftsspiel Monopoly alle Figuren mit gleichen Ausgangsbedingungen starten, endet dieses zumeist trotzdem im Streit, denn es starten immer unterschiedliche Spieler_innen mit bspw. verschiedenen Kenntnissen im Handeln. Das Ziel des Spiels ist dabei sehr wohl jeder_m bekannt: es soll Gewinner_innen und Verlierer_innen geben.

Gleichheit in der Ungleichheit

Chancengleichheit ist nur dann sinnvoll, wenn selektiert und differenziert werden soll, wie es in Schule und Universität geschieht. Wenn man Menschen mit verschiedenen Voraussetzungen der Chancengleichheit aussetzt – und diese sind in der bürgerlichen Gesellschaft immer vorhanden (bspw. Kind aus Bildungsbürgertum & Arbeitnehmer_innenschicht) – reproduziert man die Ungleichheit zwischen diesen. Individuelle Unterschiede, Interessen und Bedürfnisse werden in der Chancengleichheit ausgeblendet und dadurch bekräftigt: Alle ungleichen Kinder sollen gleichen Bedingungen (Chancengleichheit) ausgesetzt werden, um dann die Chance der Durchsetzung in der Konkurrenz wahrzunehmen oder eben nicht – jede Konkurrenz hat ihre Verlierer_innen. Wenn die ungleichen Kids den gleichen Bedingungen ausgesetzt werden, entscheidet die Leistung der Einzelnen.

Für den Vergleich der Leistungen ist die Chancengleichheit nützlich, da man zwei Gegenstände nur dann vergleichen kann, wenn man sie auf den gleichen Maßstab bringt, was bedeutet, dass außer der Note nichts weiter Relevantes hinzu kommt. Daraus erwächst also das Ideal der Leistungskonkurrenz: Nun soll die beste Leistung entscheiden; jede_r hat es in der eigenen Hand. Dieses stellt sich als nützlich (Staat und Wirtschaft erhalten die fähigsten Kräfte) und gerecht dar. Die Forderung nach gleichen Ausgangsbedingungen (bspw. sozialpolitische Maßnahmen zur Förderung einkommensschwacher Familienkinder) und Voraussetzungen in der Schule (gleicher Leistungsmaßstab) nimmt die Konkurrenz, wofür die Gleichheit nützlich ist, und die damit einhergehende Reproduktion von Ungleichheit in Kauf; sie bleibt damit ein schlechtes, da unreflektiertes Ideal.

Implizite Forderung

Alles geschieht in den Bildunginstitutionen: Schüler_innen werden trotz qualitativ unterschiedlicher Ausgangsbedingungen gleich gesetzt, bevor der Selektionsmechanismus (Noten, Prüfungen) greift. Die abstrakte Chance, in der Konkurrenz zu bestehen, soll allen offenstehen. Dabei wird aber übersehen, dass die Bedeutung von Chance nicht mit der der Garantie (für eine gute Leistung) identisch ist. Wer also für Chancengleichheit eintritt, fordert notwendigerweise auch die Abstraktion von individuellen und inhaltlichen Unterschieden, sowie die stattfindende Selektion der Menschen für einen Zweck, der den Bedürfnissen der Menschen äußerlich ist.

VI


Der Mann des Wissens und der produktive Arbeiter sind weit voneinander getrennt, und die Wissenschaft, statt in der Hand des Arbeiters seine eigenen Produktivkräfte für ihn selbst zu vermehren, hat sich fast überall ihm gegenübergestellt […]. Kenntnis wird ein Instrument, fähig, von der Arbeit getrennt und entgegengesetzt zu werden.21

Schule als Mittel. Dieser Artikel sollte deutlich gemacht haben, dass die Schule, wie sie in der hiesigen Gesellschaft organisiert wird, kein Mittel für ein vernünftiges Leben darstellt. Die Schule dient einzig und allein der Wettbewerbsfähigkeit der entsprechenden Nation durch neue Technologien und Produktivitätskraftsteigerungen, Militärforschungen und der nationalen Identiät – kurz: zur Erwirtschaftung von Profit. Dieser wird im Kapitalismus durch die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft produziert und geht damit gegen den Lohn als das einzige Erhaltungsmittel der Arbeitskraft vor. Das alles sollte man sich vor Augen führen, wenn man sich ein Urteil über Schule und Universität, wie sie hier stattfindet, bilden möchte. Auch Menschen, die einen Master in der Tasche haben, sollten sich darüber bewusst sein, dass sie mit ihrer Bildung im praktischen Wofür stets zwecks Wertproduktion und im Vergleich mit bspw. Realschüler_innen relativiert werden.

Komplizierte Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so daß ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit. Daß diese Reduktion beständig vorgeht, zeigt die Erfahrung. Eine Ware mag das Produkt der kompliziertesten Arbeit sein, ihr Wert setzt sie dem Produkt einfacher Arbeit gleich und stellt daher selbst nur ein bestimmtes Quantum einfacher Arbeit dar.22

1GG §7 (1)

2Ich benutze hier den gender-gap, um Raum für Menschen zu schaffen, die sich jenseits herrschender und gesellschaftlich konstruierter Geschlechterdichotomie von männlichweiblich definieren oder jegliche Form von identitärer Definition ablehnen. (zum Thema der Geschlechterkonstruktion siehe bspw.: Maihofer, Andrea: „Geschlecht als Existenzweise“. Ulrike Helmer Verlag 1995.)

3Übrigens: Wenn Lehrer_innen nichts von Noten halten und bspw. allen eine „1“ geben, gibt es vonseiten der Schule und des Staates Stress. Eine solche Notenverteilung dient nicht der Selektion, da hier die Schüler_innen nicht differenziert werden (siehe der Fall Frau Cerny: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,628411,00.html).
Des Weiteren bestehen feste und richtungsweise Vorgaben, z.B. dass bei Klausuren bspw. nicht schlechter als mit einem Gesamtnotendurchschnitt von 3,8 abgeschnitten werden darf; die Gaußsche Normalverteilung dient als Ideal der Notenverteilung.

4Jede_r weiß es: Die Noten geben ebenfalls Motivation, sich an geforderte Bedingungen anzupassen, sich der Autorität anzubiedern usw.

5Siehe weiter das Zitat Marx‘ auf der letzten Seite dieses Artikels.

6Siehe ebenfalls der Artikel von Thomas Gerber in dieser Ausgabe.

7http://www.europarl.europa.eu/ftu/pdf/de//FTU_4.1.pdf

8Ausschnitt aus: geskrit.wordpress.com/texte/bildung-im-kapitalismus/

9Welche Inhalte aus welchen Gründen in der Schullaufbahn vermittelt werden – darauf kann hier leider aus Platzmangel nicht eingegangen werden.

10Anmerkung: Es soll sehr wohl auch Schulen geben, in denen Noten abgeschafft sind (siehe Freie Schulen, Waldorfschulen etc.). Doch auch hier gibt es unterschiedliche Textformulierungen für unterschiedliche Leistungen. Außerdem erfahren die Schüler_innen nach bspw. angenehmen 10 Jahren dann doch die Konkurrenz (Zentralabitur, Arbeitsmarkt, Berufsleben) – ein ziemlich arger Sprung ins kalte Wasser; irgendwann erwischt es jede_n.

11GG §5 (3)

12 Engels, Friedrich: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“. Karl Dietz Verlag. Berlin 1962. S. 222.

Anmerkung: Als ideeller Gesamtkapitalist gewährt der Staat einerseits das Privateigentum, damit dessen Eigentümer_innen (Arbeitskraft & Produktionsmittel) wirtschaften können, und sorgt zugleich für die Kompensation von Schäden durch die Konkurrenz (Sozialstaat), damit das Kapitalverhältnis als solches bestand hält.

13Siehe bspw. die ständigen Beschwerden seitens der Unternehmen, dass die berufliche Ausbildung zu teuer ist usw. Da hier keine Sklavengesellschaft vorliegt, es sich hier um doppelt freie Lohnarbeiter_innen (frei von Produktionsmitteln & personalen Abhängigkeitsverhältnissen) handelt, gehören die Arbeitskräfte den Kapitalist_innen nicht (Vertragsverhältnis) – erstere können kündigen.

14Allein diese herrschaftliche Tatsache soll zu bedenken geben, denn der der Staat nimmt es sich heraus, die Freiheit von Forschung und Lehre zu begrenzen, mit der Frechheit, dass diese Maßgabe unabhängig von den Standpunkten der Bürger_innen und den un-/vernünftigen Inhalten von Forschung und Lehre gesetzt ist.

15 „Wo der Gedanke um des Gedankens willen entzückt, da führt echt wissenschaftlicher Sinn das Denken bis nahe zu seinem Urquell hin. Wo dasselbe zu Zwecken gebraucht wird, die nicht in ihm selbst liegen, da kann Wissenschaft vorhanden sein, aber ihr Geist ist wenigstens alsdann nicht lebendig.“ (von Humboldt, Wilhelm: „Über die Bedingungen, untern denen Wissenschaft und Kunst in einem Volke gedeihen“ (Fragment). In: Zweitausendeins (Hg.): „Schriften zur Sprache“. Wunderkammer Verlag GmbH. Frankfurt am Main 2008. S. 920)

16Die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit, Mittel im Kapitalismus zum Zwecke der Profits, sorgt dafür, dass die Lohnarbeiter_innen einen geringeren Teil der produzierten Ware nach Hause tragen, d.h. Lohn wird tendenziell gespart. So geht die Wissenschaft gegen die Interessen und Bedürfnisse der Menschen vor. Siehe ebenfalls weitere Zwecke der Ẁissenschaft in Thomas Gerbers Artikel in dieser Ausgabe.

17Die Kritik an der – wie oben gezeigt – selbständigen Sphäre der Wissenschaft, dass sie dem Nutzen der Volkswirtschaft nicht entspricht, widerspricht sich sowieso. Die gewährte Freiheit der Wissenschaft deutet doch gerade auf deren Zweckfreiheit hin.

18 Marx, Karl: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band.“ Karl Dietz Verlag. Berlin 2008. S. 186.

19Warum wird hier von Fähigkeiten gesprochen und nicht von Bedürfnissen und Interessen? Nur weil ich eine Fähigkeit zum Rechnen habe, heißt das noch lange nicht, dass ich rechnen interessant finde. Interessant ist ebenfalls die Verhältnismäßigkeit zwischen den erläuterten Satzteil und übrigen Text, in den es nur ersichtlich um andere Maßstäbe geht. Wieso steht dort nicht, dass ebenfalls die Seiten gefördert werden, in denen die Schüler_innen noch nicht so gut sind, sie es aber gerne werden möchten?

20 bpb: „Das Lexikon der Wirtschaft. Grundlegendes Wissen von A bis Z“. Bonn 2004. S. 130 f.

21Thompson, W.: „An Inquiry into the Principles of the Distrubution of Wealth“. London 1824. S. 274.

22 Marx, Karl: „Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band“. Karl Dietz Verlag. Berlin 2008. S. 59.

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